29.02.24

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Äpfel, Kunst und tiefe Wurzeln

In der (Kunst-)Geschichte spielen Äpfel eine wichtige Nebenrolle: von dem, der einst Newton in Sachen Schwerkraft inspirierte, über den „Tell Apfel“, bis zu dem, den Eva Adam überreichte – wobei es sich hier um einen ersten Fall von Kunstfälschung handelt. Jener Apfel war vermutlich kein Malus domestica sondern ein Punica granatum, ein Granatapfel. Vom 27. Oktober 2023 bis zum 28. Januar 2024 haben Künstler im Cider Museum im westenglischen Hereford den Äpfeln aus der Familie der Rosengewächse die Hauptrolle zugewiesen. Die Illustratorin Helen Cann wurde beauftragt eine Landkarte zu zeichnen, die die Reise des Apfels rund um die Welt, durch die Zeit und verschiedene Kulturen darstellt. „Die Karte ist die Basis für die Geschichten von Äpfeln und Menschen, die unterschiedliche Aspekte der engen Verbindung der Menschheit mit Äpfeln entdecken und zusammen das Narrativ für eine erstaunliche Beziehung darstellen“.

Das „Kernstück“ der Ausstellung sind fast 150 im 19. Jahrhundert gefertigte naturgetreue Apfelmodelle die auf subtile Weise den europäischen Kontinent mit Australien verbinden: Äpfel, säuerlich und bitter zur Herstellung von Cider, süß und mürb serviert mit Käse, oder saftig und frisch für „apple pie“ faszinierten die Briten nicht nur allein ob der optischen Vielfalt: grün glänzend, ockerfarben und warzig, schimmernd von rosé über rot bis violett. Russets, Ashmead’s Kernel, Pippin, Pearmain, Brown Snout und Carlisle Codlin – etwa ein Drittel aller bekannten Apfelsorten wurden angeblich in Großbritannien entwickelt. In Auftrag gegeben und finanziert wurde die Herstellung der Modelle jedoch von Obstanbauern in Australien. Lange Zeit war man für die Beschreibung von Sorten und Klassifikation auf botanische Zeichnungen angewiesen, die zumindest die Färbung der Früchte relativ genau wiedergaben. 

Die aus Pappmache und Wachs gefertigten Modelle hingegen zeigen auch die Größe und Oberflächenstruktur des Apfels und ermöglichten damit einen direkten Vergleich. Eine wichtige Hilfestellung für die Einwanderer, die im 19. Jahrhundert freiwillig von Großbritannien nach Australien strömten, oder von britischen Gerichten in Strafkolonien dorthin verschifft wurden. Um zu überleben mussten die Neuankömmlinge in einem klimatisch gänzlich anderen Umfeld Obst- und Gemüse anbauen und mit importierten Cultivaren und einheimischen australischen Sorten experimentieren. Als Wachsmodelle hergestellt wurden nicht nur Äpfel, sondern mehr als 50 weitere Fruchtsorten, darunter Apri­kosen, Avocados, Hopfen, Kumquats, Tomaten und Süßkartoffeln. 

Die Sammlung in Melbourne umfasst 1800 Modelle und wurde nicht nur zu einer wichtigen Informationsquelle, sondern auch zu einem Werbemittel für die Förderung von Wirtschaft und Landwirtschaft in Victoria, der Region um Melbourne sowie für dem Export. Letzteres war der Grund dafür, eine Auswahl von Apfelmodellen 1862 bei der „Great Exhibition“ in London, der internationalen Messe für Industrie und Kunst, zu präsentieren. Die Wachsäpfel sind heute das Herzstück der Modelsammlung der Royal Botanic Gardens in Kew und nur für die Dauer der Ausstellung in Hereford zu sehen. Im späten 19. Jahrhundert hielten stilisierte Äpfel Einzug in englischen Salons. William Morris, Künstler, Textildesigner und wichtigster Vertreter des Arts and Crafts Movement, dem britischen Vorläufer des Jugendstils, verwandelte mit seiner Apfeltapete Zimmerwände optisch in Baumkronen. 

Nicht nur in Schweiz und dank der Legende um Wilhelm Tell spielt der Apfel auch eine politische Rolle. In China werden Äpfel an Festtagen als Zeichen für Harmonie auch dann überreicht, wenn die Umstände alles andere als harmonisch sind. In Hereford ist ein Plakat des chinesischen Künstlers Daxi Tang zu sehen das gegen Ende der Kulturrevolution entstand: lächelnde Menschen geben Soldaten der Volksarmee Äpfel. Die Kulturrevolution war vor allem eine Zeit von Denunziation und Hinrichtungen durch die „Roten Garden“, der Millionen Chinesen zum Opfer fielen.

Das vertrocknete Skelett eines Apfelbaums dominiert den hinteren Teil eines der beiden Ausstellungsräume. Stamm und Zweige sind vollständig von Aufklebern bedeckt, die häufig auf Äpfeln der Sorte Golden Delicious zu finden waren, die drei Äpfel am Boden zieren „Pink Lady“ Sticker. Eine Installation der Künstlerin Anne Rook, die damit auf den Mangel an Biodiversität und die Normierung von Äpfeln hinweisen will – Supermärkte verkaufen nur makellose Früchte identischer Größe und Färbung.

Im Kontrast dazu ein Foto von ca. 1920 aus der landwirtschaftlichen Versuchsanstalt East Malling. Dort haben Wissenschaftler den Wurzelballen eines Apfelbaums präpariert. Zu sehen sind die sich breit zur Seite ausstreckenden Hauptwurzeln mit einem dichten Netz feiner und Haarwurzeln. Diese horizontale Ausrichtung ist typisch für schwach wachsende Unterlagen. Bei stark wachsenden Unterlagen wie bei WiesenObst Bäumen reichen die Wurzeln dagegen vertikal in tief liegende Bodenschichten und erschließen dem Baum eine Vielzahl zusätzlicher Mineralien und Nährstoffe. Daneben sind Fotos aus Jupiter Artland zu sehen, ein Skulpturenpark in der Nähe von Edinburgh. In seiner Zeit als „artist in residence“ 2016 schuf der Künstler Alec Finlay dort eine Kunstprojekt mit dem Titel „A Variety of Cultures“. Er installierte 66 aufrecht stehende Leitern aus Eichenholz und pflanzte daneben Apfel- oder Pflaumenbaumsetzling heimischer Sorten. „Die Leitern dienen dazu, zukünftiges Wachstum gleichzeitig zu antizipieren und zu messen; und letztendlich werden sie das Mittel sein, mit dem Besucher irgendwann in die Krone der Bäume steigen können um an die Früchte zu gelangen, die dort gedeihen“, heißt es auf der Jupiter Artland Webseite. (www.jupiterartland.org/art/alec-finlay-a-variety-ofcultures)

GEDICHTE, FINLAY SPRICHT VON „ÖKO-POESIE”, SIND EBENFALLS TEIL DES KUNSTPROJEKTS. WIE AUCH BEI DER OBSTBAUM INSTALLATION GEHT ES UM VIELFALT UND TERROIR

DIE FRUCHT BIETET EINE ABGERUNDETE GESCHICHTE. EINE OBSTANLAGE IST EIN ARCHIV DES ORTES. NUR DORT WO SIE HINGEHÖREN GEDEIHEN SIE GUT. DERSELBE APFEL – AM ANDEREN ORT – IST EIN ANDERER APFEL. DIE EINZIG WIRKLICHE SICHERHEIT LIEGT IN DER VIELFALT.