In der (Kunst-)Geschichte spielen Äpfel eine wichtige Nebenrolle: von dem, der einst Newton in Sachen Schwerkraft inspirierte, über den „Tell Apfel“,
bis zu dem, den Eva Adam überreichte – wobei es sich
hier um einen ersten Fall von Kunstfälschung handelt. Jener Apfel war vermutlich kein Malus domestica sondern
ein Punica granatum, ein Granatapfel. Vom 27. Oktober
2023 bis zum 28. Januar 2024 haben Künstler im Cider
Museum im westenglischen Hereford den Äpfeln aus der
Familie der Rosengewächse die Hauptrolle zugewiesen.
Die Illustratorin Helen Cann wurde beauftragt eine
Landkarte zu zeichnen, die die Reise des Apfels rund um
die Welt, durch die Zeit und verschiedene Kulturen darstellt. „Die Karte ist die Basis für die Geschichten von
Äpfeln und Menschen, die unterschiedliche Aspekte der
engen Verbindung der Menschheit mit Äpfeln entdecken
und zusammen das Narrativ für eine erstaunliche Beziehung darstellen“.
Das „Kernstück“ der Ausstellung sind fast 150 im
19. Jahrhundert gefertigte naturgetreue Apfelmodelle
die auf subtile Weise den europäischen Kontinent mit
Australien verbinden: Äpfel, säuerlich und bitter zur Herstellung von Cider, süß und mürb serviert mit Käse, oder
saftig und frisch für „apple pie“ faszinierten die Briten
nicht nur allein ob der optischen Vielfalt: grün glänzend,
ockerfarben und warzig, schimmernd von rosé über rot
bis violett. Russets, Ashmead’s Kernel, Pippin, Pearmain,
Brown Snout und Carlisle Codlin – etwa ein Drittel aller
bekannten Apfelsorten wurden angeblich in Großbritannien entwickelt. In Auftrag gegeben und finanziert wurde
die Herstellung der Modelle jedoch von Obstanbauern in
Australien. Lange Zeit war man für die Beschreibung von
Sorten und Klassifikation auf botanische Zeichnungen
angewiesen, die zumindest die Färbung der Früchte relativ
genau wiedergaben.
Die aus Pappmache und Wachs gefertigten Modelle hingegen zeigen auch die Größe und Oberflächenstruktur des Apfels und ermöglichten
damit einen direkten Vergleich. Eine wichtige Hilfestellung für die Einwanderer, die im 19. Jahrhundert freiwillig
von Großbritannien nach Australien strömten, oder von
britischen Gerichten in Strafkolonien dorthin verschifft
wurden. Um zu überleben mussten die Neuankömmlinge
in einem klimatisch gänzlich anderen Umfeld Obst- und
Gemüse anbauen und mit importierten Cultivaren und
einheimischen australischen Sorten experimentieren. Als
Wachsmodelle hergestellt wurden nicht nur Äpfel, sondern mehr als 50 weitere Fruchtsorten, darunter Aprikosen, Avocados, Hopfen, Kumquats, Tomaten und Süßkartoffeln.
Die Sammlung in Melbourne umfasst 1800
Modelle und wurde nicht nur zu einer wichtigen Informationsquelle, sondern auch zu einem Werbemittel für die
Förderung von Wirtschaft und Landwirtschaft in Victoria,
der Region um Melbourne sowie für dem Export. Letzteres war der Grund dafür, eine Auswahl von Apfelmodellen
1862 bei der „Great Exhibition“ in London, der internationalen Messe für Industrie und Kunst, zu präsentieren. Die
Wachsäpfel sind heute das Herzstück der Modelsammlung der Royal Botanic Gardens in Kew und nur für die
Dauer der Ausstellung in Hereford zu sehen.
Im späten 19. Jahrhundert hielten stilisierte Äpfel
Einzug in englischen Salons. William Morris, Künstler,
Textildesigner und wichtigster Vertreter des Arts and
Crafts Movement, dem britischen Vorläufer des Jugendstils, verwandelte mit seiner Apfeltapete Zimmerwände
optisch in Baumkronen.
Nicht nur in Schweiz und dank der Legende um
Wilhelm Tell spielt der Apfel auch eine politische Rolle.
In China werden Äpfel an Festtagen als Zeichen für Harmonie auch dann überreicht, wenn die Umstände alles
andere als harmonisch sind. In Hereford ist ein Plakat
des chinesischen Künstlers Daxi Tang zu sehen das gegen
Ende der Kulturrevolution entstand: lächelnde Menschen
geben Soldaten der Volksarmee Äpfel. Die Kulturrevolution war vor allem eine Zeit von Denunziation und
Hinrichtungen durch die „Roten Garden“, der Millionen
Chinesen zum Opfer fielen.
Das vertrocknete Skelett eines Apfelbaums dominiert den hinteren Teil eines der beiden Ausstellungsräume. Stamm und Zweige sind vollständig von Aufklebern
bedeckt, die häufig auf Äpfeln der Sorte Golden Delicious
zu finden waren, die drei Äpfel am Boden zieren „Pink
Lady“ Sticker. Eine Installation der Künstlerin Anne Rook,
die damit auf den Mangel an Biodiversität und die Normierung von Äpfeln hinweisen will – Supermärkte verkaufen nur makellose Früchte identischer Größe und
Färbung.
Im Kontrast dazu ein Foto von ca. 1920 aus der
landwirtschaftlichen Versuchsanstalt East Malling. Dort
haben Wissenschaftler den Wurzelballen eines Apfelbaums präpariert. Zu sehen sind die sich breit zur Seite
ausstreckenden Hauptwurzeln mit einem dichten Netz
feiner und Haarwurzeln. Diese horizontale Ausrichtung
ist typisch für schwach wachsende Unterlagen. Bei stark
wachsenden Unterlagen wie bei WiesenObst Bäumen reichen die Wurzeln dagegen vertikal in tief liegende Bodenschichten und erschließen dem Baum eine Vielzahl
zusätzlicher Mineralien und Nährstoffe.
Daneben sind Fotos aus Jupiter Artland zu sehen,
ein Skulpturenpark in der Nähe von Edinburgh. In seiner
Zeit als „artist in residence“ 2016 schuf der Künstler Alec Finlay dort eine Kunstprojekt mit dem Titel „A Variety of
Cultures“. Er installierte 66 aufrecht stehende Leitern aus
Eichenholz und pflanzte daneben Apfel- oder Pflaumenbaumsetzling heimischer Sorten. „Die Leitern dienen dazu,
zukünftiges Wachstum gleichzeitig zu antizipieren und
zu messen; und letztendlich werden sie das Mittel sein,
mit dem Besucher irgendwann in die Krone der Bäume
steigen können um an die Früchte zu gelangen, die dort
gedeihen“, heißt es auf der Jupiter Artland Webseite.
(www.jupiterartland.org/art/alec-finlay-a-variety-ofcultures)
GEDICHTE, FINLAY SPRICHT VON „ÖKO-POESIE”, SIND EBENFALLS TEIL DES KUNSTPROJEKTS.
WIE AUCH BEI DER OBSTBAUM INSTALLATION GEHT ES UM VIELFALT UND TERROIR
DIE FRUCHT BIETET EINE ABGERUNDETE GESCHICHTE.
EINE OBSTANLAGE IST EIN ARCHIV DES ORTES.
NUR DORT WO SIE HINGEHÖREN GEDEIHEN SIE GUT.
DERSELBE APFEL – AM ANDEREN ORT – IST EIN ANDERER APFEL.
DIE EINZIG WIRKLICHE SICHERHEIT LIEGT IN DER VIELFALT.